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Professor emeritus. Er hatte sich an den Titel nie richtig gewöhnt, obwohl er ihn seit Jahren trug. Er war inzwischen ein sehr alter Mann.

Obwohl er erst in den letzten Tagen angefangen hatte sich alt zu fühlen. Seit alles zurückzukehren begann.

Es war schwer, den Finger darauf zu legen. Es war eigentlich nichts Besonderes geschehen.

Dennoch war er davon überzeugt, daß er bald sterben würde.

Er hatte früher nicht soviel an den Tod gedacht. Der Tod war Teil all dessen gewesen, was verdrängt werden mußte. Und das war ihm gelungen. Es war ihm besser gelungen als erwartet. Es war ihm gelungen, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen und neu anzufangen. Als wäre das Leben ein leeres Blatt Papier, das darauf wartete, vollgeschrieben zu werden. Anscheinend war es jetzt voll, anscheinend hatte es deshalb angefangen, auf die Rückseite durchzulecken. Und auf der Rückseite war all das Alte, all das, was auszuradieren ihm während eines halben Jahrhunderts nicht gelungen war. Er schrieb nicht mehr – er las. Und das war sehr viel schlimmer.

Es begann wie die Gegenwart von etwas, mehr nicht. Eine vage, diffuse Gegenwart von etwas, das sich plötzlich in seinem ruhigen, festgefügten Leben breit machte. Auf eine gewisse Art und Weise war er dankbar; nicht alle durften eine Weile mit dem Tod an ihrer Seite wandern, bevor es zu Ende ging, nicht alle bekamen die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was das Leben ihnen geboten hatte. Anderseits wäre es besser, Knall auf Fall zu sterben, ohne Reue, ohne Nachdenken, ohne Gewissensqualen. Einfach mausetot auf der Straße umzufallen und wie eine zerschlagene Weinflasche weggefegt zu werden.

The End, wie es einst am Schluß amerikanischer Filme zu lesen war. Damit man Bescheid wußte.

Doch nein: aus irgendeiner unergründlichen Ursache war ihm diese Frist geschenkt worden. Er verstand nicht, warum.

Oder eher: Je länger sie währte, desto besser verstand er.

Es war ein Morgen wie jeder andere. Keine größeren Krämpfe, nur der bösartige Ischias im Bein und die schlechte Verdauung. Überhaupt keine äußeren Veränderungen.

Bis auf diese plötzliche Gegenwart von etwas.

Ja. Die stille Gegenwart des Todes.

Äußerlich lief das Leben weiter wie bisher, wie es eben aussah für einen einst so aktiven Mann von über achtzig Jahren. Also schleppend. Er traf die Kinder wie gewöhnlich, er kam zu ihren immer angenehmen Sonntagsessen, er feierte den Sabbat, Pessach, Sukkot, Chanukka und Yom Kippur wie gewöhnlich mit ihnen zusammen. Es war gerade die scheinbare Normalität, die es so schrecklich machte. Denn schrecklich war es doch? Es war doch schrecklich zu sterben. Doch richtig sicher war er nicht.

Das bedrückendste war, daß es keine rationale Erklärung gab.

Er hatte sein Leben dem Gehirn gewidmet, dem menschlichen Gehirn. Er hatte auf einem Feld geforscht, das praktisch nicht existiert hatte, bevor er damit anfing. Er war nach Schweden gekommen, hatte die Sprache gelernt und sich in die Gesellschaft hineingefunden, um dann sofort seine medizinische Forschung zu beginnen. Es hatte ihn erstaunt, wie absurd wenig wir über unser eigenes Gehirn wissen. Im großen und ganzen hatte er im Alleingang die Gehirnforschung in Schweden etabliert. Schon in den fünfziger Jahren war er, gerade erst vierzig, Professor am Karolinska Institutet geworden, und seitdem war sein Name Jahr für Jahr in den Diskussionen um den Nobelpreis gefallen. Doch er hatte ihn nie bekommen. Dagegen gewann er die sich immer stärker festigende Überzeugung, daß der Mensch durch und durch Materie ist. Die ›Seele‹ war ein altes Konstrukt, das eine Lücke im menschlichen Wissen überdeckt hatte, nämlich die Kenntnis des Gehirns. In dem Maße, in dem das Wissen über die Gehirnfunktionen zunahm, nahm das Bedürfnis nach der Seele ab, genau wie Götter und Mythen und Phantasmen stets weichen müssen, sobald die Wissenschaft an Boden gewinnt. Er hatte geheiratet, Kinder bekommen und alle Alltagswunder durchlebt, ohne von seinem Glauben an den Materialismus abzuweichen. Der Mensch wurde ausschließlich von Nervenimpulsen im Gehirn bestimmt. So war es.

Und jetzt, im Alter von beinah neunzig Jahren, diese plötzliche Gegenwart von etwas, die nicht rational erklärt werden konnte, die keinen Platz unter den Nervenimpulsen des Gehirns zu haben schien.

Oder fehlte es ihm vielleicht nur an Wissen über das, was mit ihm geschah?

Er begann zu reisen; es wurde zu einem unwiderstehlichen Bedürfnis. Keine enormen Charterreisen über weite Ozeane, keine Zugreisen quer durch Rußland, keine Everest-Besteigungen. Es ging nur darum, unterwegs zu sein. In der Regel war es die U-Bahn, das kam ihm am logischsten vor. Zu reisen, ohne zu sehen, wohin man reist. Reine Bewegung. Das Reisen zu spüren, die Bewegung, ohne daß es einen eigentlich irgendwohin brachte. So sah das Bedürfnis aus.

Also hatte er die letzten Tage damit verbracht, U-Bahn zu fahren. Er fuhr einfach, ohne Ziel, ohne Kontrolle. Irgendwie entsprach dies der Reise, die er in seinem Innern unternahm. Zu den verdrängten Buchstaben auf der Rückseite des Papiers. Des Papiers, das er umzudrehen versucht hatte, so daß es vollkommen leer zu schein schien.

Und Sachen kamen ihm entgegen. Sie stürzten aus den U-Bahnschächten, sie wälzten sich von den Bahnsteigen auf ihn zu, sie stürzten von den Rolltreppen über ihn herab. Szenen nur, kurze Sequenzen, und er hatte keine Chance, Ordnung hineinzubringen. Es war sehr eigenartig. Er war dazu verdammt zu wandern, verdammt dazu, in Bewegung zu bleiben, als würde er im selben Moment, in dem er innehielte, sterben. Wie ein Hai.

Oder wie Ahasver, der wandernde Jude, verurteilt zu ewigem Leben und ewigem Leiden.

Und es gab vieles, was noch zu verstehen war, soviel verstand er.

Er saß in der U-Bahn. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Es spielte keine Rolle. Das Licht floß vorüber, dann und wann ein Bahnhof, manchmal sporadisch Lampen im Tunnel. Und Arme lagen über ihm, Beine lagen über ihm, dünne, dünne Beine, dünne, dünne Arme, und er sah ein nach unten hängendes Gesicht, und er sah einen dünnen Draht, der in die Schläfe eingeführt wurde, und er sah, wie sich das nach unten hängende Gesicht vor Schmerzen verzerrte. Und er schrieb in ein Buch. Er las den Text, den er selbst ins Buch schrieb, und das Buch sprach von Schmerzen, von Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen.

Und er betrachtete seinen Arm, wo die Nummer eintätowiert war, und die Ziffern zogen durch ihn hindurch, weg von ihm.

Er fuhr weiter, weiter durch das Innere der Stadt, und der Tod saß an seiner Seite, und der Tod wollte etwas, aber er verstand nicht, was.

Er war unterwegs, das war alles.

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